Künstliche Intelligenz – Chancen in einem Blue Ocean der Werte

Die Digitalisierung im Allgemeinen und die Künstliche Intelligenz im Besonderen werfen in atemberaubender Geschwindigkeit und auch Härte neue Fragen auf – und zwar Wertefragen. Sollen Algorithmen über unser Leben entscheiden? Wenn ja, wie? Dürfen virtuelle Assistenten mit unseren Gefühlen spielen? Dürfen Maschinen uns überwachen? Wie sollen sie mit hochgradig sensiblen Informationen umgehen? Dr. Frank Esselsmann wirft in diesem Beitrag einen Blick auf diese Fragen und zeigt auf, wie Wertepositionierung funktionieren kann.
Dr. Frank Esselsmann ist Partner bei der concern GmbH in Köln. Er wurde in Mathematik und Informatik ausgebildet und hat nach einigen Jahren der Forschung 1997 seine Tätigkeit als Unternehmensberater in den USA aufgenommen. Seitdem hat er als Projektleiter und Partner zahlreiche strategische und operative Projekte bei internationalen Unternehmen verantwortet. Einer seiner Tätigkeitsschwerpunkte liegt in den Themenfeldern Digitalisierung und Data Mining/Big Data, einer seiner Branchenschwerpunkte bei Finanzdienstleistern.
Wertefragen sind schon jetzt relevant
Die oben gestellten Überlegungen sind keine praxisfernen Fragen aus einer zukünftigen Welt. Wer als Verantwortlicher in Unternehmen an personalisierter Werbung, an Prozess-Automatisierungen, an intelligenten Preis- und Leistungsdifferenzierung mit Hilfe Künstlicher Intelligenz arbeitet, muss sich solchen Fragen und ihren „kleinen Geschwistern“ längst stellen: Wo sind die Grenzen für Beeinflussung, Automatisierung und Differenzierung bevor sie zu Manipulation, Ohnmacht und Diskriminierung werden? Diese Fragen gewinnen in dem Maße rasant an Relevanz, wie sich zum einen die Technik und zum anderen der öffentliche Diskurs entwickelt – siehe nur die Facebook-Diskussionen in den letzten Monaten über fake news, Echokammern und Datenschutz.
Wir fokussieren uns im Folgenden auf den Umgang mit Endkunden – Wertefragen für andere Stakeholder, insbesondere Mitarbeiter, haben ihre eigenen Aspekte und verdienen eine gesonderte Betrachtung.
„Werte-nahe“ Branchen
Es gibt „Werte-nahe“ Branchen in dem Sinne, dass die Produkte beziehungsweise Dienstleistungen einen sehr unmittelbaren Bezug zur Lebensqualität und dem Selbstverständnis ihrer Kunden haben. Das sind zum Beispiel solche in den Bereichen Gesundheit, Medien, Finanzdienstleistungen, Mobilität oder auch – ein sich neu formender Bereich – Smart Home. Am anderen Ende des Spektrums stehen „Werte-ferne“ Branchen wie zum Beispiel Hersteller von Commodities. Um die Kirche im Dorf zu lassen: Was wir hier ausführen, gilt zunächst einmal für erstere. Wobei auch hier die Grenzen sich mit der Digitalisierung verschieben. Wer gestern noch eine Küchenmaschine herstellte, managed morgen vielleicht schon eine Community mit ihren Ernährungsgewohnheiten.
Man kann als verantwortlicher Manager in einer „Werte-nahen“ Branche mit Unbehagen die Unsicherheit in der Entwicklung gesellschaftlicher und politischer Meinungsbildung sehen. Sie können angesichts des (deutschen?) Technik-Skepsis oder der wachsenden Regulierungsflut verzweifeln. Sie können diesen Wandel aber auch als Chance begreifen und Ihr Unternehmen in den Wertefragen einer digitalen Zukunft positionieren. Es gibt einen „– der alte Management-Klassiker von Kim / Mauborgne ist sehr aktuell (vgl. Blue Ocean Strategy, Harvard Business Review 10/2004).
Der Blue Ocean der Werte
Werden wir an einem Beispiel konkret und schauen auf das Thema Privatsphäre: Gestern noch ein unbeliebtes Pflichtthema, ist der Datenschutz heute mit der Auseinandersetzung von Apple und Facebook oder diversen Skandalen in der Boulevardpresse angekommen. In der Fachpresse wird es ohnehin seit Jahren intensiv diskutiert. Und Morgen? Es ist höchste Zeit für Unternehmen, sich mit dem Thema und seiner Vermarktung gegenüber den Kunden auseinanderzusetzen. Von der Risikoseite her betrachtet, ist die Bedeutung klar, dafür hat die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gesorgt. Sie haben in Ihren Unternehmen vermutlich gerade erhebliche Kosten und Aufwände damit gehabt und Sie haben gerade massenweise mit Ihren Kunden kommuniziert. Die Frage ist, haben Sie das auch gut gemacht:
Vermutlich würde die Mehrzahl der Unternehmen diese Fragen mit einem „Nein“ beantworten. In der Regel, weil man die Einschränkungen, den Aufwand oder schlicht die Aufmerksamkeit fürchtet.
Das ist zu kurzsichtig gedacht. Privatsphäre verstanden als die Kontrolle des Kunden über Informationsweitergabe und Informationsaufnahme ist die technische Basis unter anderem für Entscheidungsfreiheit – und die ist für die meisten von uns von ganz entscheidendem Wert!
Privatsphäre ist Entscheidungsfreiheit
Nehmen wir ein Beispiel aus der Gesundheitsbranche: Sie können heute über Fitnesstracker, Sensorsohlen oder klassische Laufstielanalysen sehr viele Daten über Ihren Laufstil erhalten. Wer rechtzeitig weiß, wo die Schwächen in seinem Laufstiel liegen, kann gezielt Muskeln trainieren und damit Verletzungen vorbeugen. Wem der Fitnesstracker aber immerfort erzählt, dass er langsamer wird, hinter seinen Zielen bleibt und von der Peer-Group abgehängt wird, der hört irgendwann frustriert auf. Die Gestaltung dieses Informationsflusses ist Grundlage für Entscheidungsfreiheit und ein selbstbestimmtes Leben.
Privatsphäre ist ein komplexer Begriff, es gibt gute Modelle, die solche Zusammenhänge systematisieren (vgl. zum Beispiel Koops et al., A typology of privacy; University of Pennsylvania Journal of International law, Vol. 38, Iss. 2 (2017)).

Ihre fundamentale “Wert“-Schöpfung
Unternehmen, die diese Zusammenhänge verstehen und Prozesse im Sinne ihrer Kunden gestalten, schaffen die Grundlage für eine fundamentale „Wert“-Schöpfung auf Seiten der Kunden und damit auch für Wachstum und Marge auf Seiten des Unternehmens.
Eine gute Umsetzung von Werte-Orientierung heißt Pflicht und Kür, Risikovermeidung und Chancenorientierung, miteinander zu verbinden. Praktisch formuliert für das Thema Privatsphäre: Unternehmen sollten sich mit Privacy by Design auskennen, Anonymisierungs-Techniken implementieren, darauf aufbauend eine transparente Kundenkommunikation umsetzen und sich am Ende als “Enabler“ für den Kunden positionieren.
Irgendwo auf dem Weg von der Pflicht zur Kür wird aus dem “Sollen“ ein “Können“. Nicht jedes Thema eignet sich für die Wertepositionierung für jedes Unternehmen. Privatsphäre ist nur ein Beispiel, wenn auch ein zentrales. Standpunkte zu automatisierten Entscheidungen, zu personalisierten Prozessen, zu emotionalisierten Maschinen – das alles sind Themen, die zu einer Wertepositionierung aufrufen.
Wertepositionierung ist nicht immer moralisch
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Eine Wertepositionierung heißt nicht immer die moralischste aller möglichen Welten anzustreben. Wenn mein Geschäftsmodell daraus besteht, private Profildaten massenhaft an externe Dienstleister weiterzugeben und damit eine technische Infrastruktur zu finanzieren, die für meine Nutzer einen hohen Mehrwert hat, dann ist das eine legitime Wertepositionierung. Zumindest, wenn diese transparent gemacht wird und natürlich unter der Voraussetzung, dass sie den gesetzlichen Vorgaben folgt. Nur Schummeln ist verboten – dann kann der Markt entscheiden, ob diese Position nachhaltig wertschöpfend ist.
Der Blue Ocean der Werte ist eine Chance, sich nicht als Nachahmer in einem teuren Wettlauf eskalierender Maschinenparks zu verlieren, sondern sich zukunftssicher gegenüber dem Kunden zu positionieren. Auch gegen Plattformmonopole.